Dass das Gefühl beim Singen von großer Bedeutung ist, darüber sind wir uns bewusst. Das ist klar! Das gehört zum Singen genauso dazu, wie das Tönetreffen und das Timing. Aber Gefühl ist nicht gleich Gefühl. Es muss auch noch authentisch sein und zu Musik und Aussage des Songs passen. Auf der Bühne oder auch im Tonstudio müssen diese Gefühle trotz Lampenfieber und Adrenalin spürbar sein. Denn dann entstehen Gänsehautmomente, dann können wir die Zuhörer berühren. Doch wie schaffen wir es, dass unsere Stimme interessanter klingt und nicht immer gleich. Und wie bringen wir genau das „richtige“ Gefühl und mehr Farbe in die Stimme? Dazu jetzt mehr.
Singen ganz ohne Gefühl?
Wie klingen wir eigentlich ganz ohne Gefühl? Stell dir dazu mal die typische Situation vor: du stehst beim Musikunterricht in der Schule vor der Klasse und sollst ein Lied vortragen. Die wenigsten Menschen denken vermutlich in dieser Situation an Gefühl. In dem Moment geht es wohl eher darum, den Text nicht zu vergessen und vor der Klasse irgendwie zu bestehen, selbst wenn die Rabauken in der letzten Reihe anscheinend wieder irgendwas im Schilde führen. Du singst das Lied also auf sicherstem Weg irgendwie runter. Ich erinnere mich, dass man das zu meiner Schulzeit eher widerwillig und hastig hinter sich gebracht hat. Das ist also das genaue Gegenteil von Singen mit Gefühl.
Was wir unbewusst vermitteln…
Irgendetwas vermittelt unsere Stimme aber auch, wenn wir versuchen, ohne Gefühl zu singen. Bei dem Beispiel im Klassenzimmer könnte das vielleicht Unbehagen, Scham, Unsicherheit oder eine Spur von Trotz und Widerwillen gewesen sein. Das hängt natürlich von verschiedenen Faktoren ab. Ich habe in dieser Situation jedenfalls nie erlebt, dass jemand eine spannende und mitreißende Performance abgelegt hat. Die Devise war: lieber etwas gelangweilt klingen und bloß keine Gefühle zeigen, sonst leidet die Coolness zu sehr. In Wahrheit ist es jedoch nahezu fast unmöglich, ganz gefühllos zu singen. Irgendetwas Persönliches entsteht immer, wenn wir Melodien mit unserer Stimme formen, auch wenn es minimal ist. Man hat immer auch einen Gedanken im Kopf, der sich unbewusst auf Gefühl, Stimme und Körpersprache überträgt.
Was wir nicht wollen…
Wir kennen aber bestimmt alle auch etliche Beispiele, wo sich ein/e Sänger/in zu übertrieben bemüht, einen Song gefühlvoll rüberzubringen. Doch eine Portion Extraschmalz passt nicht gleich zu jedem Song. Da sollte man die Botschaft und den Text des Songs sehr wohl im Auge behalten. Klar, du kannst Herzschmerz und traurige Liebesgeschichten mit einem klagenden Jammerton in der Stimme untermalen und den sterbenden Schwan geben. Aber wenn du zum Beispiel eine knallharte politische Botschaft in deinem Song vermitteln und damit etwas reißen willst, dann passt das natürlich nicht. Dann musst du eher bestimmt und selbstsicher oder ggf. hoffnungsvoll wirken, damit dir jemand abkauft, was du da singst. Anderenfalls hat es vielleicht einen eher satirischen Effekt. Also wie schon erwähnt, Gefühl ist nicht gleich Gefühl.
Subtexte bewusst ausarbeiten.
Willst du einen Song vorbereiten, egal ob für einen Auftritt oder eine Tonaufnahme, geh den Text vorher in Ruhe durch. Was soll damit ausgesagt werden? Wie hast du dich beim Schreiben gefühlt oder wie würde sich jemand fühlen, der darüber einen Song verfasst? Sieh den Song dabei einmal als Ganzes, aber auch die Songparts einzeln. Falls der Song eher einer Geschichte gleicht, dann muss sich auch das Gefühl an die Handlung anpassen. Du kannst dir dazu kleine Notizen oder Symbole an den jeweiligen Stellen im Text vermerken. Oder du denkst bei bestimmten Worten oder Phrasen im Text immer an die passenden emotional starken Situationen. Ich habe dann oft Bilder im Kopf und spule mir wie kleine kurze Filme vor meinem inneren Auge ab. Wenn du z. B. vom Meer singst, stell dir vor du wärst dort und spürst die Sonne auf der Haut und den Wind im Gesicht.
Imaginationen & Körpersprache
Das Gefühl zum Text solltest du bereits beim Proben mit einbeziehen, damit du später gar nicht mehr bewusst darüber nachdenken musst, sondern es von ganz allein kommt. Um bestimmte Gefühle auszulösen oder zu verstärken, kannst du zu den Bildern im Kopf auch deinen Körper unterstützend einsetzen. Bei einem wütenden Song beispielsweise einfach die Hand zu einer Faust geballt und an die richtige Situation gedacht, kannst du so nicht nur das Publikum glaubwürdig überzeugen, sondern auch dein Unterbewusstsein. Körper, Gedanken und Gefühle sind so fest miteinander verbunden, dass du mit einem bewussten Gedanken und der entsprechenden Geste also auch ein Gefühl erzeugen kannst. Dieses überträgt sich dann auf die Stimme.
Mach den Test! Probier es aus!
Nun machen wir einen kleinen einfachen Selbsttest. Such dir eine unbedeutende, kurze Phrase. Beispiel: „Zu Risiken und Nebenwirkungen lesen Sie die Packungsbeilage…“ – Irgendwas! Wenn du magst, nimm dich dabei auch gern auf, bspw. mit einer Diktiergerät-App. Dann kannst du dir die Unterschiede später anhören. Jetzt probier mal folgende Szenarien aus:
- Sprich die Phrase ganz monoton auf einem Ton, wie ein Roboter, nahezu gleichgültig, aber nicht gelangweilt. Mit starrem Blick, auf einen Punkt fixiert und mit beweglosem Körper macht sich das gut.
- Dann versuch mal eine freudige Variante, wo du an Sonnenschein, Urlaub, Abenteuer und nette Menschen denkst. Die Stimme darf dabei frei und melodisch sein. Reiß gern auch die Arme dabei hoch und lache. Ein Lächeln in der Stimme kann man hören.
- Anschließend stell dir vor, du bist stolz und berichtest mit erhobenem Haupt und einem überlegenen Grinsen von einem Erfolg. Die Stimme wird etwas fester und man wirkt sicher.
- Dann sprich mal wie ein Kind, was gerade ganz aufgeregt ein Geschenk überreicht bekommen hat. Du machst dabei große Augen und ein wunderliches neugieriges Gesicht. Die Stimme klingt hell.
- Stell dir vor, du bist rasend vor Wut und haust mit der Faust auf den Tisch. Deine Miene und Stimme verfestigt sich und du willst den Frust rausschreien.
- Denk an ein romantisches Dinner und wie du der Person deiner Träume in die Augen siehst. Leg die Hand auf dein Herz und sprich mit sanfter liebevoller Stimme.
- Stell dir vor, du bist Herrscher, König oder Königin über ein Volk im Fantasieland und verkündest aufgerichtet, mit Größe und weitem Blick, wie ihr gemeinsam und entschlossen gegen das Böse kämpft. Auch in der letzten Reihe kann man dich hören.
- Setz dich nun mal zusammengekauert hin, lass die Schultern hängen und zieh die Mundwinkel nach unten. Wie würde jemand mit depressiver oder trauriger Stimmung klingen?
Gut, das fühlte sich mit diesem unpassenden Text bestimmt komisch an. Aber als Übung ist es vielleicht auch mal ganz lustig, um zu erkennen, wie wir mit einfachen Bildern im Kopf und kleinen körpersprachlichen Gesten unsere Gefühle und Stimme beeinflussen können. Nun stell dir mal vor, wie überzeugend es erst klingt, wenn der richtige Text mit dem passenden Subtext versehen ist. Wenn Gefühl, Körpersprache und Text zusammenpassen, dann können wir mit unserer Stimme berühren, bewegen und überzeugen.
Farben für Fortgeschrittene
Achtung, dieser Tipp ist vielleicht nicht unbedingt für jeden geeignet, aber für manche Sänger/innen mit viel Vorstellungskraft funktioniert auch das. Hier ein kleiner Impuls: du kannst auch mit richtigen Farben arbeiten. Also wenn du eine Phrase singst, stell dir vor, du würdest es in der Farbe Grün singen. Oder du singst es in einem knalligen Rot und danach in einem sanften Himmelblau. Zugegeben, das klingt erst einmal etwas verrückt. Doch auch Farben wirken sich auf unser Gemüt aus. Die meisten von uns sind sehr wohl in der Lage, sich darunter etwas vorzustellen. Mit etwas Aufgeschlossenheit und Mut zum Experimentieren sind wir sogar fähig, den Klang, also unsere Stimmfarbe zu beeinflussen. Dann kann man seinen Songtext ganz einfach farbig markieren. Probier es aus und denk nicht an richtig und falsch. Beobachte einfach, welche Feinheiten und Facetten dadurch in deiner Stimme zum Vorscheinen kommen.
Fazit:
Hast du die Beispiele mal ausprobiert und vielleicht eine interessante neue Seite an dir entdeckt, die deiner Stimme und deiner Präsenz sehr schmeichelt? Das wäre doch super! Vielleicht kannst du so ein paar neue Farben und Facetten in deine Stimme bringen und dem Zuhörer überraschende Gänsehautmomente schaffen und für Abwechslung in deinen Songs sorgen. Welche Imaginationen und Hilfsmittel fallen dir noch ein? Und welche Vorstellungen funktionieren für dich besonders gut? Gern kannst du einen Kommentar zu diesem Thema hinterlassen und weitere Anregungen geben. Ich freue mich, dass du auf musifiziert.de vorbeigeschaut hast. Bis bald.
Mit dem Thema “Klangfarben” beschäftige ich mich auch gerade…allerdings nicht beim Singen, sondern auf der Querflöte.
Ich stelle mir dabei manchmal vor, wie ein anderes Instrument zu klingen (Trompete, Blockflöte…). Dadurch habe ich eine gute Orientierung, wie der Klang sein soll.
Vielleicht funktioniert das ja auch für Sänger?